Wo Stehst Du
Echte Teppiche sind eigentlich die mit den orientalischen Mustern, aber beliebt waren auch die "mit den Hirschen", die man gar nicht auf den Boden legen konnte. Nach dem Teppich-Boom in den 1970er und 1980er Jahren wurde im Laufe der 1990er der Wandteppich zum Inbegriff des schlechten Geschmacks der Großeltern, ein Überbleibsel der sowjetischen Vergangenheit, das man vergaß, abzuhängen. Sich vor dem Wandteppich fotografieren zu lassen, was in der Sowjetunion zum guten Ton gehörte, gilt mittlerweile als gestrig. Bildstrecken in Sozialen Netzwerken ironisieren das Portrait vor dem Wandteppich oder laden es erotisch auf in Kompositionen, die an die Odalisken von Henri Matisse erinnern. Zugleich bleibt der Wandteppich Symbol für Ehe und Hausstand und dient gelegentlich als Hochzeitsgeschenk oder Aussteuer. Im Internet sind Fotos von Brautpaaren vor dem Teppich zu finden, oft in einem Park. Der Teppich hinter den Brautleuten wird von den Frauen der Trauzeugen hochgehalten, die auf den Schultern ihrer Partner sitzen.
Dabei wurde die Qualität der Handarbeit besonders betont. Auch Einrichtungszeitschriften förderten den Trend weg vom strengen Französischen Stil hin zu den dunkleren, warmen Tönen türkischer Polster, Vorhänge und Teppiche. Zwischen 1880 und 1915 waren in Westeuropa und den USA mit Teppichen gepolsterte Möbel in Mode. Die günstigeren Teppiche dafür kamen aus dem Mittleren Osten, vor allem aus Teilen Russlands, namentlich dem Kaukasus und den turkmenischen Gebieten. 4 Diese Mode erfasste auch die Eliten des Zarenreiches. Fotos aus den reichen russischen Häusern entsprechen ähnlichen Aufnahmen aus Frankreich, England oder den USA: Reich und bis unter die Decke mit orientalischen Teppichen und Kissen dekorierte Räume oder Ecken mit Poufs, mit Teppichen gepolsterte Sessel und Diwane laden zum Verweilen und Träumen ein. Oft wurden über den Teppichen nach kaukasischer Manier Waffen angebracht. 5 Sowjetische Kontinuitäten In Russland waren die "orientalischen Zimmer" vor dem Ersten Weltkrieg ein bei der adligen Jugend, aber auch in Künstlerkreisen beliebter Treffpunkt.
"Für mich ist es kulturlos, wenn das Bett neben einer kahlen Wand steht, als wäre es eine Mönchskammer oder Gefängniszelle", "mit ihm ist es irgendwie gemütlicher und für die Seele wärmer", "wenn ich ins Zimmer komme, habe ich das Gefühl, ich würde diesen Teppich umarmen, wenn ich nur könnte". Andere fragen sich dagegen: "Wie schwachsinnig muss man sein, um einen Teppich in seiner stinkigen Chruschtschowka aufzuhängen? " Der Teppich sammle Staub, diene als Unterkunft für Zecken, Mücken und andere Parasiten, der Raum sehe kleiner aus, primitiv, geschmacklos, eben echte "asiattschina". 9 Generell wird darüber sinniert, ob der Wandteppich eine Eigenart oder eine Geschmacklosigkeit ist. Während ein Teppich an der Wand im heutigen Russland den einen als Zeichen von Kulturlosigkeit und gilt, verkünden andere in Einrichtungsratgebern neuerdings die Rückkehr des Wandteppichs und zeigen modische Varianten. Das Online-Medium Lenta. ru etwa berichtet über die Rückkehr der Wandteppiche in die russischen Wohnzimmer im Zuge der Sowjetnostalgie und findet kulturelle und psychologische Erklärungen: Die Wandteppiche seien nicht nur eine sowjetische Besonderheit gewesen, sondern bis heute Teil des sowjetischen visuellen Gedächtnisses.
Manche Aufnahmen aus der Zeit zeigen Familien in Interieurs, in denen Boden, Wände und Sofa, zuweilen sogar der Tisch mit Teppichen bedeckt sind, sodass zumindest im Bild überhaupt keine freien Flächen sichtbar sind. Nach einer kurzen Zeit in den 1960er Jahren, als ein minimalistischer Einrichtungsstil modern war und die Ratgeberliteratur eine radikale Entrümpelung der kleinbürgerlichen Interieurs von überflüssigem Kitsch verlangte, war in den 1970er Jahren die Gemütlichkeit Trumpf, und die Teppiche vermehrten sich inflationär. Mit der massenhaften Verbreitung nahm der Anteil industriell hergestellter Teppiche zu. Auch Importe aus Bulgarien, Rumänien und der Tschechoslowakei waren auf dem Markt. Die Sowjetunion versprach ein Leben im Wohlstand, und die Teppiche waren ein prestigeträchtiges Symbol des Luxus. Geschätzt waren vor allem Teppiche aus Turkmenistan, Aserbaidschan, Georgien, Armenien und Dagestan als wertvolle Kunstgegenstände. 8 Staubfänger, nostalgisches Kultobjekt oder therapeutischer Rückzugsort Heute scheiden sich die Geister.
Wo Stehst Du, 2024