Wo Stehst Du
Sicher ist aber, dass die Parolen eine scheinbar einfache Lösung in unserer komplizierten Welt suggerieren und damit den Unzufriedenen in diesem Staat eine (rechte! ) Gemeinschaft bieten. Wie sehen das Politikverständnis und die Lösungen der AfD nun aus? Beim Lesen ihrer Programme fällt auf, dass es kaum konstruktive Vorschläge gibt. Die Positionen sind oft diffus und zum Teil widersprüchlich. Es geht offenbar nicht darum, Probleme zu lösen. Vielmehr werden Bedrohungsszenarien entworfen, Vorurteile bestärkt und Ängste geschürt. Dieser Weg ist falsch und gefährlich. Indem die AfD eine Weltuntergangsstimmung heraufbeschwört, treibt sie einen Keil in unsere Gesellschaft. Anstatt auf einen tatsächlichen politischen Diskurs und positive Veränderung zu setzen, schürt sie Misstrauen zwischen in Deutschland Geborenen und Migranten, Bürgern und ihren Volksvertretern, Journalisten und ihren Lesern. Diesem rechtspopulistischen Weltbild wollen wir etwas entgegensetzen, durch Argumente und durch unser Handeln.
Historisch gründete sich die demokratische Angst in der Bundesrepublik auf zwei Bedrohungsszenarien: einer autoritären Wendung "von oben" ausgelöst durch politische Eliten, wie in der Spiegel -Affäre 1962, oder einer autoritären Mobilisierung "von unten", die sich auf nachwirkende, populäre Ressentiments gegen die Demokratie stützen würde. Im Osten verbinden sich nun beide Szenarien. Aus Westdeutschland kommende Politiker wie Alexander Gauland und Björn Höcke aktivieren das Unzufriedenheitspotenzial und richten es gegen die multikulturelle Gesellschaft und das politische System. Wie hilft da demokratische Angst? Sie kann eine Politik der Eindämmung motivieren, die radikale Bewegungen isoliert. Entscheidend ist eine klare Grenzziehung des bürgerlich-konservativen Lagers. Historisch hatten rechtsextreme Bewegungen meist nur dann Erfolg, wenn sie bürgerliche Partner fanden. Demokratische Angst ist daher auch konservativ. Sie zielt auf das Bewahren demokratischer Institutionen, einer offenen Gesellschaft.
Die andere dient der Eingrenzung der Solidarität auf einen ethnischen Kern der Deutschen und mobilisiert Ressentiments, Hass, und - in extremen Fällen - Gewalt. Auch im Alltag entfaltet das von der AfD geschürte Ressentiment zerstörerische Wirkung. Es führt, wie der Philosoph Max Scheler schrieb, zur "schleichenden Selbstvergiftung", zur Verhärtung der Seele, zu einem beschädigten Ich, gerade unter Männern. Dieses wiederum ist anfällig für die Höckesche Anrufung neuer "Wehrhaftigkeit" als Basis einer antiliberalen, autoritären Ordnung. So paradox es klingt: Die Kultivierung demokratischer Angst ist ein Mittel gegen die rechtspopulistische Politik der Angst. Sie schärft unser Bewusstsein dessen, was wir zu verlieren haben und schützt uns gegen die Illusion, dass alles immer besser wird und wir ein quasi gottgegebenes Recht haben, in einer offenen, liberalen und ja, multikulturellen Gesellschaft zu leben. Den Zeitgenossen der alten Bundesrepublik (und auch der DDR) war aufgrund ihrer Lebenserfahrung eine produktive Zukunftsungewissheit zu eigen.
Und dieser gilt nicht nur für einzelne, sondern für alle Beschäftigten, egal ob Deutscher oder Ausländer, Christ oder Moslem, Frau oder Mann. Wir wünschen euch gute Arbeit mit diesen Argumenten.
Sie wussten um die Möglichkeit politischer Katastrophen und ihrer existenziellen Bedeutung für das eigene Leben. 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik kann diese demokratische Angst auch heute nützlich sein. Sie zeigt: Die antizipierende Imagination politischer Katastrophen kann helfen, diese zu verhindern. Anders gesagt: Die Angst vor dem Verlust der Demokratie stärkt die Demokratie. Man hofft, dass sich die Wählerinnen und Wähler am Sonntag auch daran erinnern werden. Frank Biess, 52, ist Professor für Europäische Geschichte an der University of California, San Diego.
Auch sind öffentliche Bekundungen demokratischer Angst keine Zeichen der Schwäche. Sie kommunizieren eine Identifikation mit der liberalen Demokratie. Denn man ängstigt sich nur um den Verlust von Dingen, die man lieb gewonnen hat. Das von der AfD geschürte Ressentiment führt zu einer Verhärtung der Seele, zu einem beschädigten Ich gerade unter Männern Nun betreibt die AfD ja selbst eine Politik der Angst, die sich gegen das fremde, nicht-weiße, nicht-christlich codierte Andere richtet. Dennoch ist diese Angst nicht das Spiegelbild demokratischer Angst. Die politische Lage lässt sich nur unzureichend als Parallelisierung von Ängsten beschreiben: hier die Angst vor dem Klimawandel, dort vor Flüchtlingen. Dazu unterscheiden sich diese Ängste doch zu sehr. Während sich die erste Angst auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, befördern die von der AfD mobilisierten Ängste die Schimäre von der Migration als "Mutter aller Probleme". Die eine Angst zielt auf die Ausweitung von Solidarität bis hin zur globalen Solidarität beim Kampf gegen den Klimawandel.
Wo Stehst Du, 2024