Wo Stehst Du
Nicht, weil ich inkompetent bin, sondern weil ich anscheinend ein Intro bin. Unsere Berufswelt ist leider auf die Extros unserer Welt ausgerichtet. Ich muss teamfähig sein (das bin ich, aber so richtig in Fahrt komme ich vor allem in intensiven Gesprächen zu zweit und nicht in einem Pitch mit zehn anderen). Ich muss flexibel und multitaskingfähig sein (schade, dass niemand jemanden sucht, der zwar weniger Aufgaben übernimmt, diese aber gewissenhaft und mit vollem Einsatz bearbeitet). Ich muss Freude an einem Großraumbüro haben, denn ein einzelnes Zimmer bekommt nur die Chefetage (wie schön, dass die damit verbundene, permanente Reizüberflutung und Dauerbeschallung mir schon den halben Akku nimmt und ich dann auch noch in Höchstform produktiv arbeiten soll). Ein After-Work Drink mit den Kollegen nach mindestens acht Stunden im Großraumbüro? Jeder Intro weiß, wie meine Antwort ausfällt: Ich werde dankend ablehnen, nach Hause fahren, die Tür hinter mir schließen und mit Eintreten der Stille den Akku für den nächsten Tag wieder aufladen.
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Der Soziologie-Professor Rolf Haubl, ehemaliger Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main: "Einsam sein schmerzt, alleine sein tut gut. " Einsamkeit ist meist nicht selbst gewählt, allein sein dagegen schon. Karl-Heinz Ladwig, Professor für Psychosomatische Medizin am Helmholtz-Zentrum München, fand in einer Studie mit über 4000 Teilnehmern heraus: "Es gibt viele Menschen, die alleine leben, sich aber nicht einsam fühlen. Es gibt aber auch viele, die sich einsam fühlen, obwohl sie in einer Partnerschaft leben. " Zeit, um in sich hineinzuhören Singles, die glücklich sind? Das wollen viele nicht recht glauben. Eher neigen wir dazu, Menschen ohne Gesellschaft zu unterstellen, sie seien unzufrieden. Ohne Begleitung unterwegs sein? Das macht doch niemand freiwillig! Doch. Gerade in Zeiten von Smartphones, E-Mails, Facebook, wo man nie wirklich ganz für sich sein kann, ist Alleinsein ein knappes – und damit wertvolles – Gut. Menschen machen Urlaub im Kloster, gehen bewusst offline, belegen Achtsamkeitskurse, um in sich hineinzuhören.
Allein zu sein ist also kein Zustand, der bemitleidet werden müsste oder gar negativ wäre. Stattdessen ist es durchaus erstrebenswert, Zeit mit sich allein zu verbringen, um eine eigene Persönlichkeit, ein Ich, zu entwickeln und so eine innere Stärke zu erreichen. Die besten Ideen wurden häufig im Zustand der Einsamkeit entwickelt. Es ist ganz und gar keine Schwäche, gerne allein zu sein. Bist du gerne allein, solltest du stolz auf die Fähigkeit sein, mit dir selbst auskommen zu können – jeder sollte über diese Fähigkeit verfügen. Ich liebe es, oft und viel allein zu sein. Einsam bin ich dabei nie. Hochsensible Menschen brauchen besondere Lebensstrategien Feinfühlige Menschen haben besondere Fähigkeiten, brauchen aber auch besondere Bedingungen, um wirklich kraftvoll diese Fähigkeiten und Gaben zu leben. Um diese Bedingungen schaffen zu können, habe ich dir in meinem E-Book " Hochsensibilität – Dein Anti-Stress-Coaching " zahlreiche Tipps und Übungen zusammengestellt. Es ist nie zu spät um so zu sein, wie man gemeint ist.
Abschotten kannst du dich beispielsweise, indem du Kopfhörer aufsetzt und die Musik deiner Wahl hörst. Solltest du nicht alleine wohnen, teile deinen Mitbewohnern mit, dass du für eine bestimmte Zeit nicht gestört werden möchtest, ziehe dich in einen ruhigen Raum zurück und schließe die Tür. Jetzt bist du voll und ganz mit deinen Gedanken allein – genieße es! Wenn du lieber den vier Wänden entfliehen möchtest, solltest du darauf achten dich nicht dort aufzuhalten, wo sich dein soziales Umfeld womöglich aufhält. Lebst du beispielsweise in einem Dorf auf dem Land, dann mache lieber einen Spaziergang durch einen Wald, am Strand oder im Gebirge, sodass du auf jeden Fall mit dir allein sein kannst. Denn im Dorf wird dich wohl jeder kennen, sodass es schwer sein wird, beim Spaziergang innerhalb des Dorfes, niemanden zu begegnen. Lebst du dagegen in einer Großstadt, spricht auch nichts gegen einen Aufenthalt in einem ruhigen Café. Auch wenn du hier unter Menschen bist, so bist du dennoch allein mit dir und deinen Gedanken und kannst die Freiheit genießen.
Das ist keine schlechte Sache. Gesellschaften werden durch unterschiedliche Charaktertypen beflügelt. Dazu gehören auch die Stillen, die die Einsamkeit suchen. Daher ist die Frage nach der Normalität eigentlich Unsinn. Als "nicht normal" sollte nur angesehen werden, was dir schadet. Hast du also das Gefühl, dich zu sehr zurückzuziehen und meidest selbst Menschen, die dir eigentlich wichtig sind, dann solltest du etwas verändern. Auch Misanthropie, also Menschenhass, ist ein zu extremes Beispiel, um als förderlich zu gelten. Wenn du nicht bereit bist, irgendwo in die Pampa zu ziehen und dich vollständig zu isolieren, wirst du gezwungen sein, eine gesunde Mitte zu finden. Gestehe dir deine Zeit alleine zu und genieße sie in vollen Zügen. Aber suche dir auch deine Qualitätsmenschen aus und pflege den Kontakt mit ihnen. Dafür musst du manchmal deine geliebte kleine Blase aufgeben, in der du dich nur um dich selbst sorgen musst. Aber mal ehrlich: Wenn du dich allein am wohlsten fühlst, musst du ohnehin gelegentlich mal unter Menschen gehen.
Viele Menschen setzen Alleinsein mit ungewollter Einsamkeit gleich. Doch wer sich ab und an auf sich konzentriert, kann dadurch Gesundheit und Selbstwert stärken Im Gegensatz zu Einsamkeit kann Alleinsein das Wohlbefinden steigern © Digital Vision/ RYF Menschen brauchen Menschen. Das Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit liegt in unserer Natur. Wir wollen dazugehören, anerkannt und gemocht werden. Doch auch Auszeiten, Rückzugsmöglichkeiten sind wichtig – um den Kontakt zu sich selbst nicht zu verlieren, seine Gefühle zu ordnen, abzuschalten. Umfragen belegen: Alleinsein ist erholsam und gesund In einer Umfrage von Wissenschaftlern und der britischen Rundfunkanstalt BBC unter 18. 000 Menschen aus 134 Ländern landete Alleinsein auf Platz drei der Aktivitäten, die die Teilnehmer als besonders erholsam empfanden. Auf Platz eins stand Lesen, danach In-der-Natur-Sein. Beides ebenfalls nichts, was man gewöhnlich in großen Gruppen unternimmt. Psychologen der Universität Dresden untersuchten vor einigen Jahren die Work-Life-Balance von knapp 500 Studenten und fanden heraus: Am wenigsten litten diejenigen unter seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen, die ausreichend Zeit hatten, um "über sich selbst nachdenken zu können".
Das bot die Sicherheit, die Individuen förderlich ist. Soziale Kontakte sind heute im Vergleich dazu völlig entartet. Jeden Tag trifft man Hunderte oder Tausende Menschen (auf der Straße, in der Bahn, auf Arbeit) und die Menschen, mit denen man am meisten Zeit verbringt, sind selten wirklich Familienmitglieder. Könnte dich interessieren: Wie Introvertierte Momente genießen Ist es also nicht absurd, Introvertierten vorzuwerfen, dass sie diesen Zustand meiden? Eigentlich ist der Wunsch nach 1 zu 1 Gesprächen und kleinen Zusammenkünften in ruhiger Umgebung deutlich natürlicher als das, was als Ideal gesehen wird: Viele Freunde, laute Orte, ständige Veränderung. Das Schöne an dieser Erkenntnis ist, dass sie Introvertierten (egal wo sie sich auf der Skala einordnen) die Möglichkeit gibt, Introversion zu akzeptieren und glücklicher zu leben. Statt sich zu fragen, ob mit einem etwas nicht stimmt, weil man gerne alleine ist, lautet die Frage plötzlich: Welche sozialen Kontakte bringen mir Freude?
Wo Stehst Du, 2024